Polen und der Fluch von Katyn | NZZ (2024)

Der Tod von Präsident Kaczynski und Dutzender weiterer Führungspersönlichkeiten Polens nach dem Flugzeugabsturz bei Katyn ist eine bittere Ironie der Geschichte. Alle waren sie auf dem Weg zum Ort, wo Polen schon einmal seine Elite verlor.

«Dieser verfluchte Ort, Katyn», entfuhr es dem früheren polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski, als er sich für den Fernsehsender TVN 24 zur Schreckensnachricht äusserte, dass das Flugzeug des Staatschefs Lech Kaczynski mit dem Präsidentenpaar sowie Dutzenden politischer, intellektueller und geistlicher Führer des Landes an Bord abgestürzt sei. Die Katastrophe geschah kurz vor der Landung auf dem Flughafen Smolensk in Westrussland bei äusserst prekären Wetterverhältnissen.

Düsteres historisches Kapitel

Ziel der Reise war einer der dunkelsten Orte der polnischen Geschichte: ein Wald beim Weiler Katyn, wo vor siebzig Jahren im Rahmen einer breit angelegten Aktion des damaligen sowjetischen Geheimdienstes rund 4000 Angehörige der militärischen und intellektuellen Elite Polens ermordet worden waren. Insgesamt brachten die Sowjets, die durch den Hitler-Stalin-Pakt die Kontrolle über Ostpolen erlangt hatten, im Frühjahr 1940 an mehreren Orten mindestens 22 000 Polen um.

Die Zahlen können nur geschätzt werden, denn das Archivmaterial zu diesem grausamen Verbrechen ist noch immer nicht vollständig zugänglich. Und Russland, das sich in anderen Belangen gerne als Nachfolgestaat der Sowjetunion sieht, ist einem Schuldeingeständnis bisher aus dem Weg gegangen. Als sich Ministerpräsident Putin vor einigen Tagen zum ersten Mal überhaupt mit seinem polnischen Amtskollegen Tusk zu einer Gedenkfeier zum Mord von Katyn traf, fiel zur Enttäuschung vieler Polen kein Wort der Entschuldigung.

Zu dieser Feier war der polnische Präsident Kaczynski, der zu Russland stets argwöhnische Distanz gehalten hatte, nicht eingeladen. Die Veranstaltung, die für Samstag geplant war, war nur von polnischer Seite organisiert worden. Doch statt Polen und Russland auf dem Weg zur Versöhnung über eines der schwierigsten Kapitel der jüngeren gemeinsamen Geschichte ein Schrittchen voranzubringen, riss die Flugzeugkatastrophe eine neue klaffende Wunde in die nationale Psyche Polens, die wieder mit dem Namen von Katyn verbunden ist.

Beispielloser Aderlass

Ein zweites Mal verlor das Land an diesem Ort einen bedeutenden Teil seiner Elite aus verschiedensten Bereichen. An Bord der Unglücksmaschine waren fünf Generäle und ein Vizeadmiral, die gesamte oberste Führung von Landheer, Luftwaffe, Marine und Spezialeinheiten. Ferner höchste Vertreter von Parlament und Staatsadministration, so etwa die Vizevorsitzenden des Unterhauses, Jerzy Szmajdzinski und Krzysztof Putra, und die Vizevorsitzende des Senats, Krystyna Bochenek, der Chef des nationalen Sicherheitsrats, Aleksander Szczyglo, der Nationalbankgouverneur Slawomir Skrzypek und mehrere Spitzenbeamte aus der Kanzlei des Präsidenten. Zu den Verunglückten gehörten weiter über ein Dutzend Parlamentarier, zahlreiche Vertreter der kirchlichen Hierarchie und viele Angehörige von Familien oder Gruppen, die in einer Beziehung zu Opfern des Massakers von Katyn standen.

Die Katastrophe reisst eine enorme Lücke in die Führung des Landes. Der Sejm-Marschall (Parlamentschef) Bronislaw Komorowski, der interimistisch die Amtsgeschäfte des Staatsoberhaupts führt, und Ministerpräsident Donald Tusk versicherten zwar, dass für alle relevanten Ämter Nachfolgeregelungen in Kraft seien. Dennoch sehen Staat und Gesellschaft in Polen einer gewaltigen Belastungsprobe ins Gesicht.

Vor schwerer Prüfung

Die Verfassung schreibt vor, dass im Falle des Ablebens des Präsidenten der Sejm-Marschall binnen zweier Wochen einen Termin für Neuwahlen festlegen müsse. Der Urnengang selbst sei dann innert 60 Tagen durchzuführen. Während vom Grundgesetz in diesem und anderen Fällen für die Kontinuität der Amtsausübung formell ein Weg vorgezeichnet ist, ist laut dem Politologen Rafal Chwedoruk von der Warschauer Universität aber eine andere Frage, ob Volk und Politiker die bevorstehende Zeit auch emotional durchstehen könnten. Es sei jetzt kein Raum für eine normale Wahlkampagne. Für den interimistischen Staatschef Komorowski sei es sehr schwierig, einen adäquaten Kurs zwischen moralischer Zurückhaltung und politischer Verantwortung zu steuern. Die politische Elite stehe vor einem Examen, auf das sie von niemandem vorbereitet worden sei.

Prognosen für die Präsidentenwahlen, die dem liberalen Kandidaten Komorowski gute Chancen einräumten, sind schwierig geworden. Wie sich die heikle Aufgabe der interimistischen Staatsführung für Komorowski auswirken wird, bleibt abzuwarten. Zwei Kandidaten, die für die regulären Wahlen im Herbst kandidiert hätten (Präsident Kaczynski und der Sejm-Vizemarschall Szmajdzinski), sind tot. Die Emotionen, welche die Katastrophe in der Bevölkerung freigesetzt hat, können den Volksentscheid in eine ganz andere Richtung lenken, als es nüchterne politische Betrachtung getan hätte.

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Staatstrauer in Polen Der Absturz des polnischen Präsidentenflugzeugs vom Samstag, bei dem Präsident Kaczynski, seine Frau und Dutzende von hohen Politikern und Beamten den Tod fanden, hat Polen in einen Schockzustand versetzt.

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